2. Optimismus
Optimismus (2)
Optimismus ist eine gesundheitsförderliche Persönlichkeitseigenschaft, die darauf beruht, dass Handlungsweisen Konsequenzen haben. Gehe ich optimistisch an eine Unternehmung heran, ist es wahrscheinlicher, dass ich erfolgreich sein werde.
Erwarte ich positive Konsequenzen, dann reguliere oder steuere ich mein Verhalten im Voraus, weil ich erwarte, auf diese Weise mehr zu erreichen. Außerdem bringe ich mehr Einsatz und Durchhaltevermögen ein.
Positive Emotionen wirken wie ein zusätzlicher Schutzfaktor. Vor allem in Hinblick auf die Tendenz, negative Reaktionen auf das eigene Verhalten der Außenwelt und positive Reaktionen der eigenen Person zuzuschreiben.
„Optimismus beeinflusst meinen Gesundheitszustand und wirkt sich auf das Immunsystem aus. Generell führt eine optimistische Einstellung (zum Beispiel das Hinzuziehen eines ärztlichen Rates bei Beschwerden) zu einer gesünderen Lebensweise. Optimistische Menschen erleben aufgrund ihres aktiveren Bewältigungsverhaltens weniger negative Lebensumstände und erhalten mehr soziale Unterstützung“ (Hoyer 2000, in: Bengel / Lyssenko, 2012, 49).
Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran
Der zwölfjährige jüdische Moses lebt allein mit seinem Vater. Seine Mutter hat beide verlassen. Der Vater ist als Anwalt beruflich stark eingespannt und Moses erledigt die Hausarbeit. Er kauft täglich bei Monsieur Ibrahim, einem Araber, in der Pariser Rue Bleue ein. Monsieur Ibrahim wird langsam zu seiner Bezugsperson. Ibrahim, der Moses Momo nennt, kümmert sich um ihn auch nach dem Selbstmord seines Vaters. Als seine Mutter überraschend zurückkommt, hält Momo konsequent an seinem Namen Momo fest. Mutter und Sohn nähern sich im Laufe der Handlung langsam wieder an.
Zwischenzeitlich hat Monsieur Ibrahim Momo adoptiert und bricht mit ihm zu einer Reise in seine Heimat auf. Auf dem Weg zu Ibrahims Herkunftsort im „Goldenen Halbmond“ weiht er Momo in die Geheimnisse des Lebens ein. Momo wird seinen inneren Frieden finden und ihn auch mit seiner Mutter schließen. Monsieur Ibrahim erweist sich dabei als Vater und Lehrer, als Weiser und Mystiker, ohne aufdringlich oder belehrend zu sein. Er führt Momo in die Welt des Sufismus und die tanzende Kontemplation der Derwische ein.
Ibrahims ganzes Wesen ist geprägt von einem tiefen Glauben an den Koran und stillem Optimismus, dass alles sich finden wird. Nach einem Autounfall, bei dem Ibrahim stirbt, kehrt Momo nach Paris zurück und übernimmt dessen Ladengeschäft. Er tritt damit die Nachfolge Ibrahims an, des Arabers, was in dieser Branche des Ladengeschäfts bedeutet: „nachts und auch am Sonntag geöffnet“ (101).
Zitate
Monsieur Ibrahim war schon immer alt. Alle in der Rue Bleue und in der Rue du Faubourg-Poissonniere meinten, sich erinnern zu können, daß Monsieur Ibrahim schon immer diesen Kolonialwarenladen hatte, von acht Uhr früh bis tief in die Nacht hockte er fest verankert zwischen seiner Kasse und den Putzmitteln, ein Bein im Gang, das andere unter einem Stapel von Streichholzschachteln, einen grauen Kittel über einem weißen Hemd, Zähne aus Elfenbein unter einem dürren Schnurrbart und Augen wie Pistazien, grün und braun, heller als seine bräunliche Haut voller Weisheitsflecken.
Denn allgemein galt Monsieur Ibrahim als weiser Mann. Wahrscheinlich, weil er seit mindestens vierzig Jahren der Araber in einer jüdischen Straße war. Wahrscheinlich, weil er viel lächelte und wenig sprach. Wahrscheinlich, weil er sich der normalen Hektik der Menschen scheinbar entzog, besonders der Hektik der Pariser, er rührte sich nie, saß auf seinem Hocker wie ein aufgepfropfter Ast, füllte niemals, vor wem auch immer, seine Regale auf, und verschwand zwischen Mitternacht und acht Uhr früh, keiner wußte wohin. (13f)
Ich hatte gelernt, die Menschen mit den Augen meines Vaters zu sehen. Mit Mißtrauen, mit Mißachtung ... Mich aber mit einem arabischen Krämer zu unterhalten, auch wenn er kein Araber war – denn „Araber, das bedeutet in der Branche: Nachts und auch am Sonntag geöffnet“ [...] (28f)
„Das macht gar nichts“, sagte Monsieur Ibrahim. „Deine Liebe zu ihr gehört dir. Die kann dir keiner nehmen. Auch wenn sie sie nicht annimmt, kann sie daran nichts ändern. Ihr entgeht nur was, das ist alles. Was du verschenkst, Momo, bleibt immer dein Eigen; was du behältst, ist für immer verloren!“ (57)
Die Langsamkeit, sie ist das Geheimnis des Glücks. (83)
„Eine Tekke ist kein Tanzboden, das ist ein Kloster. Momo, zieh deine Schuhe aus.“
Und da habe ich zum ersten Mal die sich drehenden Männer gesehen. Die Derwische trugen lange, helle, schwere, weiche Gewänder. Eine Trommel erklang. Und die Mönche verwandelten sich in Kreisel.
„Siehst du, Momo, sie drehen sich um sich selbst, sie drehen sich um ihr Herz, um den Ort, wo Gott wohnt. Das ist wie ein Gebet.“
„Das nennen Sie beten?“
„Aber ja, Momo. Sie verlieren jede Bindung an die Erde, diese Schwere, die man Gleichgewicht nennt, sie werden zu Fackeln, die in einem großen Feuer verbrennen. Versuch es, Momo, versuch es. Mach es mir nach.“ (87)
„Für jeden von uns, Momo, ist eine Leiter aufgestellt, damit wir entfliehen können. Der Mensch war zuerst etwas Mineralisches, dann etwas Pflanzliches, dann etwas Tierisches – das Tiersein kann er nicht vergessen, und allzuoft verspürt er den Drang, sich wieder in ein Tier zu verwandeln –, erst dann ist er zum Mem sehen geworden, mit der Anlage zum Wissen, zur Vernunft, zum Glauben. Kannst du dir den Weg vorstellen, den du vom Staubkorn bis zum heutigen Tag zurückgelegt hast; Und später, wenn du dein Menschsein verlassen hast, wirst du zu einem Engel. Dann hast du mit der Erde nichts mehr zu tun. Wenn du tanzt, bekommst du eine Ahnung davon.“ (91)
„Doch, ich bin angekommen. Alle Arme des einen Flusses münden im gleichen Meer. Im einzigen Meer.“ (93)
„Passt ..., mach dir keine Sorgen. Ich sterbe nicht, Momo. Ich gehe nur ein in die Unendlichkeit.“ (95)
Rumi:
Gold braucht keinen Stein des Weisen, aber das Kupfer, ja. Veredele dich.
Was lebt, laß sterben: Es ist dein Körper.
Was tot ist, erwecke: Es ist dein Herz.
Was anwesend ist, verstecke: Es ist das Diesseits.
Was abwesend ist, laß kommen: Es ist das Jenseits.
Was existiert, vernichte: Es ist die Begierde.
Was nicht existiert, erzeuge: Es ist das Sehnen. (96)
Resilienz-Strategie
Momo ist Jude. Ibrahim ist Moslem. Beide Religionen gehen hier nicht aufeinander zu. Sie treffen sich weder in der Mitte, noch gibt es Kompromisse oder Reden über Gleiches und/oder Trennendes. Dass Momo am Ende „Araber“ wird, bedeutet nicht, dass er kein Jude mehr ist. Es ist eher der Respekt vor der Lebensart seines Mentors, welcher ihm Frieden und innere Zuversicht lehrte.
Ibrahims Leben ist eine unerschütterlicher Quelle des Optimismus. Leben meint anwesend und für andere da zu sein. Ibrahim – und später Momo – leben ein soziales Leben, wofür der Laden steht.
Ibrahim ist mit dem zufrieden, was er hat, und bewältigt das, was auf ihn zukommt mit dem Glauben, dass alles Sinn macht und lösbar ist, ohne dabei beherrscht oder manipuliert werden zu müssen. Das Leben ist wie der Tod ein sich verbinden mit dem Unendlichen. Nicht von ungefähr tröstet Ibrahim seinen Schützling Momo noch im Angesicht des Todes „Doch, ich bin angekommen. Alle Arme des einen Flusses münden im gleichen Meer. Im einzigen Meer“ (93). Und genauer sagt er es mit seinen letzten Worten: „Passt ..., mach dir keine Sorgen. Ich sterbe nicht, Momo. Ich gehe nur ein in die Unendlichkeit“ (95).
Hier im Alltag ist der Alltag das, was er wortwörtlich ist: alles. Jeder Tag ist jeder Tag, aber ohne dass ein Tag dem anderen gleicht. Die Aufgabe, die das Leben stellt, ist eine alchemische: die Wandlung ohne den Stein der Weisen, denn dieser verkörpert – zumindest für Rumi (vgl. dazu: S. 96) – ein Ziel.
Aber jedes Ziel schränkt ein. Der Vers von Rumi, der im Buch ausführlich zitiert wird, empfiehlt das Kupfer als Ausgangspunkt zu nehmen, was bedeutet, den Stein der Weisen abzulehnen. Zwar ist Gold das Ziel der Alchemie und damit des Steins der Weisen, hier ist es aber irrelevant. Kupfer ist wichtiger, weil Kupfer symbolisch für die Liebe steht, eine Liebe, die umfassend sein soll.
Als Anmerkung: die Alchemie gilt nicht nur als Aberglaube, um aus unedlen Metallen Gold zu machen, sondern auch als Kunst, Unedles in Edles zu verwandeln. Das Edle ist das Gold. Doch da Gold ein Ziel darstellt, muss dieser Prozess so genutzt werden, dass er immerwährend dauert. Ein Ziel im Angesicht der Unendlichkeit ist ein Widerspruch in sich. Sicherlich kann der alchemische Prozess ebenso im Sinne Rumis gedeutet werden, doch ist das nicht die Intention dieses Buches.
Optimismus im Angesicht der Unendlichkeit des Alltags ist eine notwendige Eigenschaft, die über Herrschaft und Lebensmeisterung hinausgeht. Optimismus meint, aus seinem inneren Frieden heraus zu handeln und dem Leben aufgeschlossen gegenüberzustehen. Um diese innere und äußere Gelassenheit anzustreben, bedarf es eines Mediums: seien es Religion, Mediation, Gebete, „Heilige Schriften“ usw. ... oder das Vertrauen in die bewusste Annahme der alltäglichen Dinge und deren Verrichtung, sprich: des All-Tags.
Optimisten werden geboren, aber sie können auch aus sich heraus erschaffen werden.
Das „aktivere Bewältigungsverhalten“ des Optimismus ist eine Resilienz-Strategie, die auf positive Konsequenzen abzielt. Auch ein Ladengeschäft lebt nicht von Glaube und Hoffnung, sondern von Geld und Kunden. Auch Monsieur Ibrahim möchte erreichen, dass es ihm und seiner Umgebung gut geht. Sein Geheimnis liegt darin, sich aus diesem Wesensgrund dem Leben anzunähern. Der Duft der Blumen des Korans, den diese verströmen, geben dabei die Richtung vor.
Ausblick
Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran gehört in einen Bereich, der als Ratgeberliteratur im weitesten Sinne angesehen werden kann. Hierzu können weiter Werke gerechnet werden wie:
Richard Bach: Die Möwe Jonathan (1970) [verfilmt]
Jean Giono: Der Mann mit den Bäumen (1985)
Heinz Körner: Johannes. (1978)
Susanna Tamaro: Geh, wohin dein Herz dich trägt (1995)
Fyn: Hallo, Mister Gott, hier spricht Anna. (1978)
Carlos Castaneda: Die Lehren des Don Juan. Ein Yaqui-Weg des Wissens. (1973)
Lobsang Rampa [Cyril Henry Hoskin]: Das dritte Auge, Ein tibetanischer Lama erzählt sein Leben. (1957)
James Hilton: Irgendwo in Tibet. [Lost Horizon] (1933/1937) [verfilmt: In den Fesseln von Shangri-La, 1937]
Im Prinzip ist es gleichgültig, ob Möwen, Bäume, ein Kind, eine alte Frau oder ein Weiser im Mittelpunkt des Buches stehen. Ebenfalls ist es ohne Belang, ob wir es mit indischen, jüdischen, islamischen, esoterischen, mystischen, indianischen oder tibetischen Gedanken zu tun haben. Ihnen gemeinsam ist ein Optimismus, der auf einer bewussten Einordnung (nicht Unterordnung) oder zumindest Ausrichtung in bzw. auf eine Möglichkeit beruht, sein Leben erfüllter zu gestalten.
Reflexion und Kritikfähigkeit sind notwendig, aber auch die Möglichkeit, diese in ihre Schranken zu weisen. Nicht immer muss ein Hund bellen, um seine Anwesenheit unter Beweis zu stellen. Wie dies zu bewerten ist, muss jedem selbst überlassen werden.
Dass Erfolg nicht gleichzeitig Anerkennung durch Fachleute (Rezensenten, Wissenschaftler, Forschende usw.) meint, zeigt das Buch Johannes, dass sich über 1 Million verkauft hat und damit ein breites Leserinteresse widerspiegelt. Im Wikipediaeintrag heißt es dazu: „Rezensionen bzw. Literaturkritiken dazu in namhaften Zeitungen o. ä. sind nicht bekannt.“ – Optimismus angesichts von Ignoranz ist auch eine Möglichkeit, sich zu behaupten.
Literatur
Eric-Emmanuel Schmitt: Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran. Zürich 202. Ammann Verlag.