4. Selbstwirksamkeitserwartung

Aus Resilienz-Literatur

Selbstwirksamkeitserwartung (4)

Selbstwirksamkeitserwartung ist ein Schutzfaktor, der darauf abzielt, den eigenen Erwartungen, Anforderungen und Hindernissen mit den vorhandenen Ressourcen selbst zu begegnen. Sie ist eine positive Einschätzung der Fähigkeit, Krisensituationen selbstbestimmt zu meistern. Ihr liegt eine optimistische Sichtweise zugrunde. Potenzielle Stressoren werden als Herausforderungen gesehen und es wird eine aktive und problemorientierte Bewältigungsstrategie eingesetzt, um Rückschlägen oder Hindernissen mit größerer Ausdauer zu begegnen. Darüber hinaus besteht ein höheres Vertrauen in die eigenen Selbstregulationsfähigkeiten:

Personen mit hoher Selbstwirksamkeitserwartung nehmen sich als weniger verletzlich wahr und schätzen ihre Umgebung als weniger bedrohlich ein. Daher kommen sie seltener in die Situation, angesichts eines Ereignisses große Hilflosigkeit und Stress zu erleben.

Bei der Konfrontation mit Ereignissen, die das individuelle Bewältigungspotenzial übersteigen, tendieren Personen mit hoher Selbstwirksamkeitserwartung dazu, trotzdem aktive, problemorientierte Bewältigungsstrategien zu initiieren.

Personen mit hoher Selbstwirksamkeitserwartung haben außerdem größeres Vertrauen in ihre Selbstregulationsfähigkeiten und sind in stark belastenden Situationen in der Lage, auch eigene, sich aufdrängende Gedanken unter Kontrolle zu bringen oder sich davon zumindest nicht in einem hohen Ausmaß beunruhigen zu lassen. (nach: Lyssenko, 2012, 54f).

In stark belastenden Situationen werden sich aufdrängende „negative“ oder „destruktive“ Gedanken schneller unter Kontrolle gebracht. Man ist nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen.

Selbstwirksamkeitserwartungen bringt erst in Kombination mit anderen Faktoren die gewünschte Wirkung. Jedoch: „Eine hohe Selbstwirksamkeit motiviert dazu, im Sinne von aktiven und problemorientierten Bewältigungsstrategien zu handeln, bei Rückschlägen nicht aufzugeben und die eigenen Bewältigungsmechanismen positiv zu bewerten […]“ (Bengel / Lyssenko, 2012, 57f).

Der Gesang der Flusskrebse

Das Buch erzählt die Geschichte des „Marschmädchens“ Kya von 1952 bis 2009. Die Sechsjährige lebt mit vier Geschwistern und ihren Eltern in einer Hütte in den Marschgebieten (Great Dismal Swamp) von North Carolina. Ihr Vater ist Alkoholiker und gewalttätig, Nach und nach verlassen ihre Geschwister und ihre Mutter den Ort. Zurück bleibt Kya allein mit ihrem Vater. Dieser bezieht eine Versehrtenrente aus dem 2. Weltkrieg, was ein geringes, aber regelmäßiges Einkommen garantiert. Beide lernen, miteinander zu leben. Ihr Vater bringt ihr einiges über die Marsch bei, ehe auch er sie verlässt.

Kya wird „Marschmädchen“ genannt und von den Menschen der Umgebung gemieden. Einzig in dieser Landschaft findet sie Zuflucht und Geborgenheit. Ihre Lebenserfahrung basiert auf den Gesetzen der Marsch.

In Jumpin, einem schwarzen Händler, bei dem sie u. a. Sprit für das Motorboot einkauft, und dessen Frau Mabel erfährt sie Hilfe für die Bewältigung ihres Alltags. Jumpin kauft ihr Muscheln und Fisch ab, so dass sie eine Einnahmequelle hat.

Kya freundet sich mit Tate an, dem Sohn eines Krabbenfischers. Er bringt ihr Lesen bei, leiht ihr Bücher und vermittelt ihr Bildung. Tate und Kya kommen sich näher aber Tate verlässt sie, um Biologie zu studieren. Er hält sein Versprechen nicht ein, Kya zu besuchen. Kya beginnt eine Beziehung mit Chase, einem Frauenhelden und illustrerem Mittelpunkt der Gemeinde. Chase verspricht ihr die Ehe, heiratet je doch ein anderes Mädchen.

Kya legt eine umfangreiche Sammlung all dessen an, was sie findet, fertigt talentiert Zeichnungen und entwickelt sich im Laufe der Jahre zu einer Expertin für die Marsch. Tate arbeitet nach seinem Studium in einem biologischen Forschungszentrum am Rande des Sumpfgebiets und ermuntert Kya, ihre Forschungen zur Marsch zu veröffentlichen. Er vermittelt ihr einen Verlag. Die Bücher werden veröffentlicht und garantieren Kya ein regelmäßiges Einkommen.

Im Oktober 1969 wird Chase tot aufgefunden. Kya wird verdächtigt, doch in einem Geschworenenprozess freigesprochen. Eine Rolle spielt dabei eine Muschelhalsband, das Chase immer trug, als er aber tot aufgefunden wurde, fehlte es. Das war ein Geschenk von Kya.  

Kya und Tate leben zusammen bis Kya im Jahre 2009 stirbt. Im Nachlass versteckt findet Tate das Muschelhalsband.

Zitate

Einige Vögel pickten behutsam zwischen Kyas Zehen, und sie lachte, weil das kitzelte, bis ihr Tränen über die Wangen strömten, und schließlich brachen laute, würgende Schluchzer aus der engen Stelle unter ihre Kehle hervor. Als die Milchtüte leer war, dachte sie, sie würde den Schmerz nicht ertragen, voller Angst, die Vögel würden sie ebenso verlassen wie alle anderen. Doch die Möwen ließen sich um sie herum am Strand nieder und machten sich daran, ihre grauen ausgestreckten Flügel zu putzen. Also setzte sie sich auch hin und wünschte, sie könnte sie einsammeln und zum Schlafen mit auf die Veranda nehmen. Sie stellte sich vor, wie sie alle in ihrem Bett lagen, ein flauschiger Berg aus warmen, gefiederten Körpern mit ihr zusammen unter der Decke. (45)

Monate vergingen, der Winter hielt leise Einkehr, wie die Winter im Süden das tun. Die Sonne, warm wie eine Decke, umhüllte Kyas Schultern, lockte sie tiefer in die Marsch. Manchmal hörte sie nachts Geräusche, die sie nicht kannte, oder sie erschrak sich, wenn Gewitterblitze zu nah waren, doch wenn sie stolperte, war da immer das Land, das sie auffing. Bis irgendwann, in einem unbemerkten Moment, der Herzschmerz versickerte wie Wasser in Sand. Noch immer da, aber tief unten. Kya legte ihre Hand auf die atmende nasse Erde, und die Marsch wurde ihr zur Mutter. (50)

Bei den Zeilen musste er an Kya denken, Jodies kleine Schwester. Sie hatte so zart und allein gewirkt, in der unendlichen Weite der Marsch. Er stellte sich seine eigene Schwester dort draußen verloren vor. Sein Dad hatte recht – Gedichte ließen dich was fühlen. (68)

Sie träumte nicht mehr davon, mit den Adlern zu fliegen. (112)

Als Kya sich näher heranschlich, sah sie auf der Erde eine Henne liegen, die von den Vögeln ihrer eigenen Herde mit Schnäbeln und Krallen traktiert wurde. Irgendwie hatte sie sich so rettungslos mit den Flügeln in Dornengestrüpp verfangen, dass sie nicht mehr fliegen konnte und ihre Federn in seltsamen Winkeln abstanden. Jodie hatte mal gesagt, wenn ein Vogel sich plötzlich von den anderen unterscheidet, weil er entstellt oder verletzt ist, zieht er leichter Raubtiere an, und deshalb töten ihn die eigenen Artgenossen, da das besser ist, als einen Adler anzulocken, der dann vielleicht auch noch einen von ihnen erwischt. (117)

„Das isses nich allein.“ Sie flüsterte beinahe. „Ich hab nich gedacht, dass Wörter so viel meinen können. Ich hab nich gewusst, dass ein Satz so voll sein kann.“ (134)

„Tja, dann verstecken wir uns lieber irgendwo draußen, wo die Krebse singen. Mir tun alle Pflegeeltern leid, die dich aufnehmen würden.“ Tate lächelte übers ganze Gesicht.

„Was heißt’n das eigentlich, wo die Flusskrebse singen? Ma hat das auch immer gesagt.“ Kya erinnerte sich daran, dass Ma sie dauernd ermutigt hatte, die Marsch zu erkunden: „Geh, so weit du kannst – bis dahin, wo die Flusskrebse singen.“

„Das heißt bloß, weit draußen, wo die Tiere noch wild sind und sich benehmen wie Tiere. [...]“ (143)

Ich muss sagen, ich bin froh, dass es vorbei ist. /

Am Ende empfand ich nur noch Mitleid /

Mit diesem Drang hin zu noch mehr Leben. /

... Adieu. (149)

Chase dümpelte längsseits. „Hi.“

Sie blickte über die Schulter und nickte. Er stieg aus und streckte ihr die offene Hand entgegen – lange, gebräunte Finger. Sie zögerte. Jemanden zu berühren, hieß für sie, einen Teil von sich zu verschenken, den sie nie zurückbekommen würde. (200)

Sie lachte ihm zuliebe, etwas, was sie noch nie getan hatte. Verschenkte ein weiteres Stück von ihr selbst, nur, um jemand anderen in ihrer Nähe zu haben. (227)

Warum sollten die Verletzten, die noch immer Blutenden, die Bürde des Verzeihens tragen? (250)

Das alles war kein Zufall gewesen, Chase hatte sie ganz gezielt mit seinem Gerede von Heirat geködert, dann prompt mit ihr geschlafen und sie anschließend wegen einer anderen verlassen. Sie wusste aus ihren Studien, dass Männchen von einem Weibchen zum nächsten ziehen, warum also war sie auf diesen Mann hereingefallen? Sein schickes Wasserskiboot entsprach dem aufgeblähten Hals und dem übergroßen Geweih eines brunftigen Hirschbullen: Zubehör, um andere Männchen abzuschrecken und ein Weibchen nach dem anderen anzulocken. Dennoch war sie auf denselben Trick hereingefallen wie Ma: scheinheilige, raffinierte Schürzenjäger. Welche Lügen hatte Pa ihr aufgetischt? In welche teuren Restaurants hatte er sie eingeladen, bevor ihm das Geld ausging und er sie in sein wahres Territorium mitnahm – eine Hütte im Sumpf? Vielleicht sollte man lieber die Finger von der Liebe lassen. (267)

Falls jemand Einsamkeit verstand, dann doch wohl der Mond. (270)

„[...] Vielleicht haben ja primitive Instinkte – uralte, unzeitgemäße Gene – Ma dazu gebracht, uns zu verlassen, um dem Schrecken und der echten Gefahr zu entkommen, die das Leben mit Pa für sie bedeutete. Das macht es nicht richtig; sie hätte bei uns bleiben sollen. Aber das Wissen, dass diese Reaktion in unserem biologischen Bauplan angelegt ist, hilft womöglich, selbst einer Mutter zu verzeihen, die versagt hat. Es erklärt, warum sie fortging, aber ich verstehe noch immer nicht, warum sie nicht zurückgekommen ist. Warum sie mir nicht mal geschrieben hat. Sie hätte Brief um Brief schreiben können, Jahr für Jahr, bis einer davon mich endlich erreicht hätte.“

Wer bestimmt die Zeit zu sterben? (255)

Weitere Resilienz-Faktoren, die für den Roman tragend sind

Positive Emotionen (1)
Optimismus (2)
Hoffnung (3)
Selbstwertgefühl (5)
Kontrollüberzeugungen (6)
Kohärenzgefühl (7)
Hardiness (8)
Coping (10)

Resilienzstrategie

Ein kleines Mädchen, allein gelassen von der eigenen Mutter und ihren Brüdern und Schwestern, um mit ihrem alkoholabhängigen Vater in einem Sumpfgebiet zu leben, bedarf einer gewissen Kraft und vor allem eines: Optimismus gepaart mit der Erwartungshaltung an sich, diese Situation zu meistern. Solche Zuversicht muss von einem unerschütterlichen Zutrauen in die Zukunft flankiert sein, selbst dann, wenn diese positiven Gefühle überlagert werden von Angst und Hoffnungslosigkeit. Ein Ausweg bietet sich, doch warum?

Die Marsch hat ihre eigenen Gesetze. Eine ethische oder moralische Instanz gibt es nicht. Die Marsch hat immer recht. Es gilt sich ihr anzupassen. Nicht umgekehrt. Das kann dazu führen, dass die Umgebung als Schutzraum angesehen wird, der trotz der Gefahren Ruhe und Geborgenheit, Schönheit und Überraschung bietet.

Die Erfordernisse des Alltags und der Umgang mit anderen Menschen bleiben dennoch eingeschränkt, sonst wäre Leben in einer solchen Umgebung nicht möglich. Das bedarf des Ausgleichs für Eigenständigkeit, Flucht und bewusste Ausgrenzung der sozialen Realität sowie eines hohen Maßes an Vertrauen in die eigenen selbstregulierenden Fähigkeiten. Sobald ich in der Lage bin, die eigene Persönlichkeit, das eigene Leben und die damit zusammenhängenden Faktoren nicht nur anzunehmen, sondern auch in ihrer Eigenart anzuerkennen, gelingt es mir, eine positive Grundhaltung zur Lösung der alltäglichen Probleme einzunehmen. Diese Positivität kann durchaus destruktiv überlagert werden, wohl aber muss Krise überwunden werden können. Destruktivität oder introvertierte Ausblendung des Alltags gehören nicht zur Intention des Romans. Vielmehr stellt sich Kya den Herausforderungen und kann sogar auf sich allein gestellt überleben und zugleich eine positive (1), optimistische (2) Grundhaltung ausprägen.

Kya obliegt es nicht, ein hohes Selbstwertgefühl (5) auszubilden. Aber sie weiß, was sie wert ist und welche Entscheidungen zu treffen sind (Selbstwirksamkeitserwartung). Sie weiß, was sie will und was nicht. Selbst als sie von Chase verführt wird, ist es ihre Entscheidung, dieser Verführung nachzugeben. Sie hat eine gewisse Kontrolle (5) über das Geschehen, lässt sich aber auch kontrollieren. Die Marsch bildet hierbei die Matrix, auf der sich Resilienzfaktoren ausbilden. Die Gesetze der Biologie sind ihr Wegweiser. Die Strategie ist es, eine gewissen eingeschränkte Copingsstruktur (10) aufzubauen, die mit Hardiness (8) harmoniert.

Ihr Schicksal als Kind ist prägend für ihr weiteres Leben. Ihre fehlende Mutterbeziehung hinterlässt eine tiefe emotionale Trauer ebenso die Flucht der Brüder und Schwestern. Aber die Konstante ist und bleibt die Marsch. Aus ihr gewinnt sie ihre Strategie. Vorbilder sind das Verhalten der Pflanzen und Tiere, aus dem sie eine Lebensanleitung ableitet. Zuerst unbewusst, doch dann mehr und mehr als symbolische Lebenserfahrung. Heirat ist nicht als Akt der Vermählung präsent, sondern findet sein Vorbild in dem Verhalten der Graugänse, die ein Leben lang zusammenbleiben. Sogar die Ermordung von Chase basiert auf biologischen Gesetzmäßigkeiten zur Erhaltung der Art und des Gleichgewichts, ohne dass dadurch eine solche Tat zu rechtfertigen wäre, denn der biologischen Ethik der Marsch steht die menschliche Ethik nicht gegenüber, sondern muss diese überragen.  

Jedes Geschöpf, jede Pflanze lebt in der Marsch, ohne dass es andere versklavt oder unterdrückt. Hindernisse bieten sich dann, wenn gegen dieses Gesetz der natürlichen Auslese verstoßen wird und der Mensch eingreift, um seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen. Die Ermordung von Chase gründet auf der kindlichen Traumatisierung (Gewalt, Verlassenwerden, Instrumentalisierung, Unterdrückung). Aber auch auf dem Verstoß gegen die Biologie des Lebendigen. Chase erhebt sich gegen die Marsch personifiziert durch Kya. Das Verbrechen geschieht nicht aus Rache, sondern, weil Feinde nie aufhören werden, Feinde zu sein. Sie müssen – so die Marsch – getötet werden, um ein angenommenes, imaginäres oder natürliches Gleichgewicht wieder herzustellen.

Die Brechung dieser Regel ist die Übertretung der Grenze des anderen gepaart mit der Ignoranz des Gesetzes der Marsch, das auf Respekt, Frieden und Gleichgewicht beruht. Um ein Gleichgewicht wieder herzustellen, um sich selbst zu schützen, nützt die Natur den Weg der Gewalt. Ihre Strafe ist eine punktgenaue, keine affektive oder unüberlegte spontane Reaktion. Der Tod ist Teil der Marsch. Gewalt ist Teil dieser natürlichen Ordnung im Sinne des Schutzes und der damit einhergehenden Wiederherstellung des Gleichgewichts. So gesehen kann ein Gericht nicht für Kya zuständig sein – weil sie sich den Gesetzen der Marsch verpflichtet führt – und ist es doch, weil sie ein menschliches, soziales Wesen ist.

Es geht um den Bauplan der Biologie, der wiederum auf den Beobachtungen von Natur beruht. Dieser Bauplan ist die Rechtfertigung für die Tat. Ein solcher biologischer Bauplan mag zwar eine gewisse Sicherheit und Ruhe geben, muss aber auch überwunden werden.

Kya nutzt eine problemorientierte Bewältigungsstrategie, um Hindernissen und Rückschlägen zu begegnen. Ihre Basis ist das Vertrauen in die eigenen Selbstregulationsfähigkeiten.

Weitere Literatur zum Thema Selbstwirksamkeitserwartung (4):

Walter Tevis: Das Damengambit. Zürich 2021. Diogenes Verlag.

Literatur:

Delia Owens: Der Gesang der Flusskrebse. München 2020. Hanser Verlag.