6. Kontrollüberzeugung
Kontrollüberzeugung (6)
Kontrollüberzeugungen enthalten die subjektive Wahrnehmung wie Situationen beeinflusst werden können. „Wenn eine Person eintretende Ereignisse vorwiegend als Resultat eigener Handlungen wahrnimmt, entspricht dies einer internalen Kontrollüberzeugung. Eine ausgeprägte internale Kontrollüberzeugung wird in der Resilienzforschung als protektiv angesehen“ (Bengel / Lyssenko, 2012, 61).
Im Gegensatz dazu ist eine übersteigerte Kontrollüberzeugung ein Risikofaktor. („Es lässt sich nicht alles kontrollieren bzw. beherrschen.“) Dennoch kann eine Kontrollüberzeugung schützend wirken, weil sie die Persönlichkeit stabilisiert. All das bleibt aber situationsabhängig:
Insgesamt besteht beim Konstrukt der Kontrollüberzeugungen die Gefahr einer Vermischung von Risiko- und Schutzfaktoren. Eine hohe externale Kontrollüberzeugung hat sich über viele Studien hinweg als konsistenter Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Störungen erwiesen […] (Bengel / Lyssenko, 2012, 64).
Graham Greene: Unser Mann in Havanna.
Die Handlung spielt kurz vor der Machtübernahme Fidel Castros in Havanna, Kuba. Der Brite James Wormold ist dort Inhaber eines Staubsaugergeschäftes. Er lebt getrennt von seiner Frau mit seiner 17-jährigen Tochter Milly in einem Haus, das ihm zugleich auch als Ladengeschäft dient. Milly besucht eine katholische Klosterschule und verbringt ihre Freizeit mit Hauptmann Segura, dem örtlichen Polizeichef, der auch der „Rote Aasgeier“ genannt wird und durch Folter und Einschüchterung einen Machtapparat aufbauen konnte. Er wird um Millys Hand anhalten, doch sie weist ihn zurück. Milly ist es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen und lebt über ihre Verhältnisse. So bringt sie ihren Vater dazu, ein Pferd zu kaufen, was Wormold schmerzlich vor Augen führt, dass er dringend Geld benötigt.
Wormold ist mit dem deutschen Arzt Dr. Hasselbacher befreundet. Hasselbacher war vor dem 1. Weltkrieg in der kaiserlichen Armee und ist Mitte der 1930er Jahre nach Kuba ausgewandert.
Eines Tages wird Wormold von einem britischen Geheimagenten namens Hawthorne angesprochen und für den britischen Geheimdienst angeworben u .a. mit den Worten: „Wir brauchen unseren Mann in Havanna ...“ (34) Der Zentrale in London verkauft dieser Wormold – der von der Geheimdiensttätigkeit keine Ahnung hat – als einflussreichen Geschäftsmann mit umfangreichen Beziehungen, was jedoch nicht den Tatsachen entspricht.
Nach seiner Anwerbung übernimmt Wormold mehr und mehr die Initiative und versucht, seine Umwelt in seinem Sinne zu beeinflussen. Aus Pflichtgefühl gegenüber seiner neuen Tätigkeit und einem Erwartungsdruck erfindet er Agenten, denen er fiktive Biografien gibt, auch mit dem Ziel, dem britischen Geheimdienst höhere Spesenzahlungen zu entlocken, damit er seinen aufwendiger gewordenen Lebensstil finanzieren kann wie die Haltung eines Pferdes oder die Mitgliedschaft im hiesigen Country-Club. All das gelingt. Dann erfindet er ein Bauprojekt und liefert technische Pläne ab, die in Wirklichkeit Konstruktionspläne des neuen Staubsaugers sind.
„London“ wird immer zufriedener mit ihm und stellt ihm immer mehr Mittel zu Verfügung. Wormold wird aus London die Sekretärin Beatrice Severn und der Funker Rudy zugewiesen. Er erhält aufgrund weiterer erfundener Berichte umfangreiche finanzielle Zuwendungen, mit denen er den Lebensstil, der vor allem seine Tochter betrifft, bestreiten kann.
War es am Anfang noch ein Lügengebäude, in dem sich Wormold bewegte und in das er den britischen Geheimdienst mit einbezog, so verändert sich allmählich alles. Sein Freund Dr. Hasselbacher entpuppt sich ebenfalls als Agent und wird erschossen. Wormold soll mit Gift ermordet werden, was misslingt. Personen, die er als Agenten führt und die nichts darüber wissen, dass sie von ihm als solche angegeben wurden, werden ermordet. Hauptmann Segura hält um die Hand seiner Tochter an und bedroht ihn, damit er seinen Willen erhält. Ein als Staubsaugervertreter ausgegebener Agent namens Carter wird von Wormold in Notwehr erschossen. Beatrice durchschaut den ganzen Plan und will dennoch mit ihm zusammen sein.
Am Ende des Buches fliegen Wormold, Milly und Beatrice nach London. Seine Lügen werden aufgedeckt, doch es folgen keine Konsequenzen, weil der britische Geheimdienst sich scheut zuzugeben, dass er sich von Wormold täuschen ließ. Stattdessen wird er befördert und mit dem „Orden des British Empire“ geehrt. Er wird versetzt. Beatrice und Milly folgen ihm.
Graham Greene
Der britische Autor Graham Greene (1904–1991) wurde vor allem durch Kriminal- und Spionageromane bekannt. Er arbeitete während des 2. Weltkrieges beim britischen Geheimdienst und schrieb für die Times und den Spectator. Greene arbeitete am Drehbuch zu Der dritte Mann (1950) mit. Viele seiner Romane wurden verfilmt.
Resilienzfaktor
Wormold ist, so der erste Eindruck, ein genügsamer, von anderen beeinflussbarer und wenig zur Initiative neigender Mann, der für sein Geschäft und seine Tochter lebt, dabei seine Gewohnheiten hat und insgesamt ein unauffälliges Leben lebt. Mit der Geheimdiensttätigkeit wird dieser Eindruck einerseits bestätigt.
Bemerkenswert ist, dass Wormold langsam die Initiative ergreift und sich vorstellt, seine Umgebung in seinem Sinne verändern zu können. So sucht er Situationen zu beeinflussen, indem er ein Netzwerk an Lügen und gefälschten Informationen konstruiert, getreu dem Motto, das ihm Dr. Hasselbacher mitgibt: „Lügen Sie einfach und behalten Sie Ihre Freiheit. Die haben die Wahrheit nicht verdient“ (67).
Auf die Frage, wie er mit den Missinformationen umgehen solle, meint sein Freund:
„Sie sind ein Glückspilz, Mr. Wormold. Solche Informationen sind immer einfach.“
„Einfach?“
„Wenn sie wirklich geheim sind, wissen nur Sie darüber Bescheid. Sie brauchen nur ein bisschen Fantasie, Mr. Wormold.“
„Sie wollen, dass ich Agenten anwerbe. Wie wirbt man einen Agenten an, Hasselbacher?“
„Sie könnten sie auch erfinden, Mr. Wormold.“
„Das hört sich an, als ob Sie Erfahrung hätten.“ (66)
Wormold richtet sein Doppelleben neu aus. Obwohl er nicht wissen konnte, was es bedeutet, für den britischen Geheimdienst zu arbeiten und welche Konsequenzen es haben kann, versucht er das Spiel mitzuspielen und was viel wichtiger ist, zu gestalten und zu steuern. Dabei gehören Selbstzweifel mit dazu:
Während er durch den Duft der zur Nachtzeit blühenden Pflanzen zurückging, hatte er nur einen Wunsch: Beatrice alles zu erzählen. Ich bin kein Geheimagent, ich bin ein Betrüger, niemand von diesen Leuten ist mein Agent, und ich weiß nicht, was sich abspielt. Ich bin verloren. Ich habe Angst. Bestimmt hätte sie die Lage in den Griff bekommen; schließlich war sie ein Profi. Aber er wusste, dass er sich nicht an sie wenden würde. Das hätte bedeutet, dass er die Sicherheit für Milly aufgab. Lieber hätte er sich eliminieren lassen wie Raul. Zahlte sein Geheimdienst Nachkommen eine Rente? Aber wer war Raul? (150)
Wormold will die Kontrolle selbst dann, wenn sich das „Lügengebäude“ auflösen und er getötet werden sollte. Doch so einfach ist es nicht. Gerade aus der Unmöglichkeit zu kontrollieren, erwächst allmählich eine eigene Parallelwelt, in der für wahr gehalten wird, was als wahr gehalten werden soll:
„Sie haben geglaubt, ich hätte den Geheimdienst auf den Arm genommen?“ „Natürlich klingt das jetzt absurd, ich weiß. Trotzdem, irgendwie war ich erleichtert, als ich herausgefunden habe, dass die anderen beschlossen haben, Sie zu ermorden.“ (178)
Eine Kontrollüberzeugung soll schützend wirken, weil sie die Persönlichkeit stabilisiert. Sie wirkt sich auf die Umwelt und das eigene Leben aus, denn man hat das Gefühl oder die Überzeugung, das „Leben im Griff“ zu haben. Im Falle von Wormold drückt sich das ambivalent aus. Er wird durch seine Geheimdiensttätigkeit in eine neue Lebenssphäre katapultiert. Weil er aber auf ein solches Doppelleben in dem es nichts Wichtigeres gibt als die Kontrolle zu haben, nicht vorbereitet ist, hat er immer das Gefühl, zu scheitern. In einem verborgenen, doppelten Leben bedarf es einer zutiefst überzeugten Kontrollerfahrung. Man muss das Leben und die damit zusammenhängenden Konsequenzen steuern und kontrollieren können:
Bis jetzt war es Wormold so vorgekommen, als ließe sich der Irrtum leicht aus der Welt schaffen. Aber jetzt war es, als hätte er an einem einzigen losen Faden gezogen, und ein ganzer Anzug löse sich auf. (149)
Der Alltag lässt sich nicht beherrschen oder kontrollieren. Und er kann sich so verändern, dass er sich selbstständig macht und Reaktionen auslöst, die weder vorhersehbar noch planbar sind. Dies begreift Wormold:
Wie lange es doch dauert, bis man die komplizierten Muster des Lebens begreift, deren Teil alles – selbst eine Ansichtskarte - werden kann, und wie unbesonnen es ist, irgendetwas als unwichtig abzutun. (77)
Der Grat zwischen einer solchen Lebensüberzeugung und einer psychischen Erkrankung ist schmal. Auch wenn Kontrolle ausgeübt wird, bedarf es eines verstärkten Maßes an Aufmerksamkeit und Lebensenergie, um diese Kontrolle im eigenen Sinne beeinflussen zu können. Selbst die von Wormold erfundenen Figuren entwickeln ein Eigenleben: „Manchmal erschreckte es ihn, wie diese Leute ohne sein Wissen im Dunkeln wuchsen“ (117). An anderer Stelle fragt ihn Beatrice: „Manchmal glaube ich, Sie behandeln Ihre Agenten wie Figuren, wie Gestalten in einem Buch. Das da oben ist ein realer Mann – oder?“ (122)
Ist der Akt des Schreibens nicht auch eine Art Kontrolle, die dem Schreibenden die Sicherheit gibt, das zu beherrschen, was er schreibt? Und gibt es nicht Aussagen von Autoren, die angeben, dass ihre Protagonisten ein „Eigenleben“ entwickelten – „Können wir schreibend menschliche Wesen zum Leben erwecken? (131)“, sodass die Handlung einen Verlauf nimmt, der nicht vorhersehbar war? Wer kann einen ganzen Roman bis ins letzte Detail planen? Wer kann ein Leben aus der Überzeugung heraus leben, alles zu kontrollieren?
Letztlich ist eine externale Kontrollüberzeugung ein Risikofaktor für die Entwicklung psychischer Störungen (Bengel / Lyssenko, 2012, 64).
Resilienzstrategie
Die Strategie für die Nutzung der Kontrollüberzeugung als Resilienzfaktor besteht darin, die Annahme, das eigene Leben kontrollieren zu können, ernst zu nehmen und sich dabei bewusst zu bleiben, dass es immer wieder Konfrontationen mit der „Wirklichkeit“ geben wird, die diese als unkontrollierbar zeigt. Der Versuch, die Kontrolle abzugeben, muss letztlich daran scheitern, dass es menschlich ist, sich vor Verantwortung zu drücken, wenn es darum geht, Aufgaben ernst zu nehmen, die über den eigenen Habitus hinausweisen. Beatrice hält den Vertretern des Geheimdienstes eine Rede, die genau dies ausdrückt:
„Es gibt etwas Größeres als das eigene Land, nicht wahr? Sie haben uns das beigebracht mit Ihrem Völkerbund, Ihrem Atlantikpakt, mit NATO, UNO und SEATO. Aber den meisten von uns bedeuten sie nicht mehr als die anderen Buchstaben, USA und UdSSR. Und wir glauben Ihne nicht mehr, wenn Sie sagen, Sie wollen Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit. Was für einen Frieden? Sie wollen nur Karriere machen.“ (241)
Insgesamt gesehen ist Beatrice pragmatischer und wirklichkeitsnäher als Wormold. Auf dessen Frage, ob sie ihr glaubten, erwidert sie: „Nicht alles. Sie haben uns nicht viel zum Glauben übrig gelassen, nicht wahr – nicht einmal zum Unglauben. Ich kann an nichts Größeres denken als ein Zuhause, an nichts Vageres als ein menschliches Wesen“ (241).
Vielleicht lässt sich die Realität und ihre Unvorhersehbarkeit besser kontrollieren, indem man sie nicht kontrolliert, als wenn man meint, sie kontrollieren zu können.
Ausblick: James Bond
Ein anderes Beispiel aus dem Bereich der Geheimdienste ist die legendäre Buch- und Filmfigur James Bond von Ian Fleming.
Wenn Bond ein neues technisches Spielzeug erhält, z. B. in Form eines umgebauten, getunten Autos, hat der Zuschauer das Gefühl, dass James Bond in der Lage ist, alles zu beherrschen und zu überwinden, selbst den Tod, immerhin hat er die „Lizenz zum Töten“. (Welcher Mensch kann „erlauben“, einen anderen zu töten?)
Nicht von ungefähr wird Bond folgendermaßen charakterisiert: ironisch, galant bis zynisch, ein Macho mit der „Aura der Unverwundbarkeit“, ein Genießer und Lebemann, gebildet, charmant und überaus kontrolliert. Fehler machen nur die anderen ... Er ist ein Selfmademan ... Hilfe anzunehmen, fällt ihm schwer. Doch in „Casino Royale“ werden deutliche Risse in der makellosen Erscheinung des James Bond sichtbar. So verzockt er sich beim Poker oder muss hilflos zusehen, wie „Vesper“, seine Geliebte, ertrinkt.
James Bond wird heutzutage zunehmend kritischer gesehen. Er gilt als Psychopath, der mit seiner selbstgefälligen Arroganz nicht nur beratungsresistent ist, sondern weder empathisch ist noch Gefühle entwickeln kann, die über einen (un)gesunden Narzissmus hinausgehen.
Seine Frauenbild ist mehr als dürftig schattiert: So sagt Vesper Lynd zu Bond: „Frauen bedeuten für Sie austauschbares Vergnügen, nicht ernsthaftes Engagement.“ Seine Geheimdienstchefin M sagt bereits 1966 in „Goldeneye“: „Sie sind ein sexistischer, frauenverachtender Dinosaurier.“
Ausgestorben ist Bond bislang nicht. Und so kann an ihm exemplarisch abgelesen werden, was Kontrollüberzeugung anzurichten vermag.
Literatur
Graham Greene: Unser Mann in Havana (1958/1959)