9. Religiosität und Spiritualität
Religiosität und Spiritualität (9)
Eine positive Grundhaltung und eine religiöse Orientierung wurden bereits als förderlich für die Stärkung der Resilienz genannt (vgl. dazu Punkt 3: Hoffnung). Die Schwierigkeit besteht in der Definition und Operationa lisierung von Religiosität und Spiritualität. Weder sind sie einheitlich als solche zu konnotieren noch lassen sie sich konzeptionell oder theoretisch adäquat fassen. Sie reichen tief ins Subjektive hinein und sind zumeist in einem a-rationalen Kontext verankert, der kaum oder nur schwer transparent ist.
Zu den Merkmalen von Spiritualität gehören:
– Suche nach dem Sinn und Zweck des Lebens
– Suche nach Antworten auf Fragen zur Bedeutung von Krankheit und Tod
– Bildung eines Bedeutungsnetzes, das dem Leben Kohärenz und Sinn verleiht.
Zu den Merkmalen von Religiosität zählen:
– Übernahme von spezifischen Glaubensüberzeugungen
– Traditionssysteme
– Teilnahme an Aktivitäten und Ritualen organisierter Religionsgemeinschaften.
Über die Möglichkeit, Religion und Spiritualität als Resilienzfaktoren in das eigene Leben zu integrieren, werden Bewältigungsstrategien („Coping“) aktiviert. Drei religiöse Copingstile lauten:
– „passives Coping“
– „kooperatives Coping“
– „Selbstmanagement“.
Wie bei religiösen Orientierungen üblich, wird das eigene Handeln als Teil eines größeren Ganzen, eines Plans oder einer Heilserwartung empfunden. Das besagt, dass der Einzelne sich als Teil von etwas Größerem sieht. In diesem Sinne liegt die Verantwortung nicht mehr allein beim Individuum. Vielmehr gibt er die Eigenverantwortung – wenn nicht gar die gesamte Verantwortung – an ein Übergeordnetes, Göttliches oder Gott ab. Das kann auch dazu führen, dass negative Ereignisse als Strafe oder Prüfung empfunden werden oder dass man das Gefühl hat, in „Ungnade“ gefallen zu sein. Unabhängig davon, ob sie positiv oder negativ konnotiert ist, wirkt sich eine solche Haltung auf das Leben und das Potenzial zur Entwicklung und zur Förderung von Resilienz aus:
Ein positiver religiöser Copingstil zeichnet sich durch eine vertrauensvolle Gottesbeziehung aus, bei der das Individuum Gott und Mitmenschen um Hilfe bittet, jedoch Eigenverantwortung übernimmt. Ein negativer religiöser Copingstil ist durch die Deutung negativer Ereignisse als Strafe oder Prüfung Gottes sowie dem Hadern mit Gott, dem eigenen Glauben oder der Glaubens gemeinschaft geprägt [...] Der Einfluss von Religiosität auf die psychische Gesundheit sowie die Verarbeitung potenziell traumatischer Erlebnisse und chronischer Stressoren sind nicht eindeutig (Bengel / Lyssenko, 2012, 77).
So sehr Religiosität mit gesteigerter Lebenszufriedenheit und dem Gefühl von Hoffnung und Sinn einhergeht, so wenig sind die angeführten Komponenten überprüfbar. Dennoch wirkt die Vorstellung, dass das eigene Schicksal Teil eines göttlichen Plans sei, entlastend. Es bleibt wichtig, dass Religiosität und Spiritualität als Schutzfaktoren mit anderen Schutzfaktoren zusammenwirken.
Beispiel für Religiosität und Spiritualität: Johann Wolfgang von Goethe „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795/96)
„Bekenntnisse einer schönen Seele.“
Resilienzfaktor: Religiosität (9)
In dem Roman von Johan Wolfgang von Goethe „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795/96) ist das 6. Buch überschrieben mit: „Bekenntnisse einer schönen Seele“.
Die „schöne Seele“ ist der spirituelle und religiöse Gegenpart zu Wilhelm Meister. Dieser staunt über die „Reinheit“ ihres Daseins sowie die „Unmöglichkeit, etwas in sich aufzunehmen, was mit der edlen, liebevollen Stimmung nicht harmonisch war“ (Goethe, GW 7, 518). Natalie, die Nichte der „schönen Seele“, beschreibt sie mit folgenden Worten:
Eine sehr schwache Gesundheit, vielleicht zuviel Beschäftigung mit sich selbst und dabei eine sittliche und religiöse Ängstlichkeit ließen sie das der Welt nicht sein, was sie unter andern Umständen hätte werden können. Sie war ein Licht, das nur wenigen Freunden und mir besonders leuchtete (Goethe, GW 7, 517). Dem Arzt, der die schöne Seele behandelt, gilt die Religion als „Heilmittel für kranke Seelen“ (Schößler, 121).
Das sechste Buch und seine Aufzeichnungen der „schönen Seele“ wirken im Roman wie ein Fremdkörper. In Wilhelm Meisters Lehrjahre muten sie wie eingeschoben an und bleiben für die Romanhandlung von geringer Bedeutung. Im Zuge einer Resilienz-Strategie aber erhalten sie Sinn, weil sich darin ein Weg der Innenschau und des bedingungslosen Subjektivismus spiegelt, der als weiterer Aspekt für Wilhelms Planspiel gelten kann. Lebensbeschreibungen werden als lebensfeindlich empfunden, weil das darin beschriebene Leben als solches negativ beurteilt wird. Die „schöne Seele“ zieht sich auf ihre subjektiven religiösen Erlebnisse zurück, sie ist weder tätig noch nimmt sie am Gemeinschaftsleben teil. Die Aufzeichnungen verkörpern die programmatische Botschaft des Romans, ohne sie jedoch adäquat ausleben zu können:
„Daß ich immer vorwärts, nie rückwärts gehe [...]“ (Goethe, GW 7, 420).
Ihr „vorwärts“ ist ein hin zu „Gott“, zur Reinheit der Seele, zur Hoffnung auf ein besseres Leben. Sie zielt auf eine spirituelle Ebene, die sich vom Alltagsdasein entfernt. Jedenfalls spielt Religiosität (9) eine zentrale Rolle. Ihre Lebenseinstellung, die in der Selbstprüfung im Sinne einer Selbsterforschung des Innenlebens besteht, ist für das Leben der „schönen Seele“ so zu fassen:
Daß ich immer vorwärts, nie rückwärts gehe, daß meine Handlungen immer mehr der Idee ähnlich werden, die ich mir von der Vollkommenheit gemacht habe, daß ich täglich mehr Leichtigkeit fühle, das zu tun, was ich für recht halte, selbst bei der Schwäche meines Körpers, der mir so manchen Dienst versagt; läßt sich das alles aus der menschlichen Natur, deren Verderben ich so tief eingesehen habe, erklären? Für mich nun einmal nicht. Ich erinnere mich kaum eines Gebotes; nichts erscheint mir in Gestalt eines Gesetzes; es ist ein Trieb, der mich leitet und mich immer recht führet; ich folge mit Freiheit meinen Gesinnungen und weiß sowenig von Einschränkung als von Reue. Gott sei Dank, daß ich erkenne, wem ich dieses Glück schuldig bin und daß ich an diese Vorzüge nur mit Demut denken darf. Denn niemals werde ich in Gefahr kommen, auf mein eignes Können und Vermögen stolz zu werden, da ich so deutlich erkannt habe, welch Ungeheuer in jedem menschlichen Busen, wenn eine höhere Kraft uns nicht bewahrt, sich erzeugen und nähren könne (Goethe, GW 7, 420).
Ihre Religiosität lässt erkennen, dass sie Teil eines „Planes“ und ihr Lebensweg „vorwärts“ ausgerichtet ist. Ihre Erdenschwere, ihre Körperlichkeit wird durch „Leichtigkeit“ kompensiert. Die Tatsache, dass der Körper „so manchen Dienst versagt“, ist Teil eines (göttlichen) Plans zur „Vervollkommnung“. Sie fühlt sich von einer „höheren Kraft“ geborgen und getragen (9).
In Resilienzfaktoren ausgedrückt, ergibt dies eine ausgeprägte Kontrollüberzeugung (6) und Selbstwirksamkeitserwartung (4). Die Resilienzstrategie liegt in der konsequenten Verwirklichung der eigenen Religiosität (9) als signifikanter Teil des Copingprozesses (10). Letzterer wirkt bei ihr umgekehrt, denn Widerstände erfährt sie nicht mehr im Leben, sondern nur noch in der Bedrohung des selbst gewählten Weges durch das Leben. Resilienz gegenüber Widerständen, um ein harmonisches Leben zu führen, ist somit keine eigentliche Strategie mehr, sondern eine eher kontraproduktive Folge einer ausgeprägten Religiositätssucht. Das Lebendige wird als Bedrohung der eigenen Überzeugungen gesehen, was nicht im Sinne von Resilienz sein kann.
Festzuhalten bleibt, dass die „schöne Seele“ in einer spirituellen Welt unterwegs und in ihrem eigenen Selbstwertgefühl (5) geborgen ist, das sich in der Religiosität (9) bewahrt. Ihre Erwartungen an das Leben bestehen darin, den Widerständen im Glauben zu begegnen. All dies ist nur für sie selbst von Bedeutung und zeigt ihre Lebensferne.
Wenn man den Lebensentwurf der „schönen Seele“ beurteilen möchte, dann fasziniert ihr Mut, Religion privat zu gestalten. Diese Privatheit führt zur Isolierung, zur Entfremdung vom sozialen Umfeld und schließlich vom eigenen Körper. Zurück bleibt die Seele.
Literatur:
Goethe, Johann Wolfgang von (1994): Werke Kommentare und Register. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band VII. Romane und Novellen II. Textkritisch durchgese hen und kommentiert von Erich Trunz. C. H. Beck Verlag, München. (Goethe, GW VII)
Bengel, Jürgen / Lyssenko, Lisa (2012): „Resilienz und psychologische Schutzfak toren im Erwachsenenalter – Stand der Forschung zu psychologischen Schutz faktoren von Gesundheit im Erwachsenenalter“. In: Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung. Band 43. Köln: BZgA.